„Wie lange ist deine letzte Veröffentlichung schon her?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, beantwortete Walther seine Frage gleich selbst „Fast drei Jahre, die Leute beginnen dich langsam zu vergessen.“

„Die Leute interessieren mich nicht", murmelte Hank schulterzuckend. „Sollten sie aber, Du lebst schließlich von ihnen.“

Hank griff zu der schon fast halb geleerten Whiskyflasche, die auf einem kleinen runden Eichentisch zwischen ihnen stand, betrachtete einen Moment das Etikett, goss sich schließlich einen kräftigen Schluck in sein Glas und sagte „Du meinst, du lebst von ihnen!“

„Das auch, aber darum geht es gar nicht“, antworte Walther und setzte hinzu „Wann hast Du das letzte Mal etwas zu Papier gebracht?“

Hank, noch immer sein Whiskyglas in der Hand balancierend, schaute über dessen Rand zu Walther hinüber „Ich schreibe nicht auf Papier, niemand schreibt noch auf Papier.“

Walther spürte, wie in ihm langsam der Ärger hochkroch „Verdammt, Du weißt wie ich das meine!“ schimpfte er dann und noch ehe Hank etwas erwidern konnte, setzte er hinzu „Früher lag immer etwas von dir auf meinem Schreibtisch. Du hast Lesungen abgehalten, hast deine Bücher signiert, Interviews gegeben und jetzt? Nichts! Nada! Stattdessen hast Du dich in diesem Nest verkrochen und man hört und sieht nichts mehr von dir. Mensch Hank, glaubst Du ich wäre den ganzen weiten Weg zu dir gefahren, nur um mit dir Whisky zu trinken? Ich mache mir Sorgen um dich, echte Sorgen. Ich bin doch dein Freund!“

Mit zynischem Grinsen schaute Hank zu Walther hinüber. Der kleine runde Tisch, der zwischen ihnen stand kam ihm dabei fast wie ein Bollwerk, wie ein schützender Wall zwischen seiner Welt und der Welt in der Walther lebte vor. Endlich sagte er „Mein Freund? Niemand ist mein Freund, Du bist mein Lektor, mehr nicht.“

Hank zog die Tür hinter sich zu, machte sich aber nicht die Mühe, diese auch abzuschließen. Es gab nichts bei ihm zu holen, zumindest nichts, woran sein Herz hing.

Langsam ging er den mit Moos überwucherten Weg entlang, der sein Haus mit der Welt verband, warf einen kurzen desinteressierten Blick über die lang schon verwilderten Blumenbeete, Sträucher und wenigen Obstbäume, welche nur noch durch Zuhilfenahme von Fantasie erahnen ließen, dass dieses Mal ein recht schöner Garten gewesen sein musste. Dann öffnete er das eiserne Tor, welches seinen Bemühungen quietschend und ein wenig widerwillig nachgab und schritt durch die Mauer hindurch, welche aus Natursteinen errichtet, mit Efeu überwuchert seine kleine Welt von der, von ihm so ungeliebten da draußen trennte.

Eigentlich war es nur diese Mauer gewesen, die ihn damals bewogen hatte das kleine Haus überhaupt zu kaufen - über zwei Meter hoch umschloss sie das Grundstück. Verwehrte den da draußen den Einblick und versprach Ruhe, Abgeschiedenheit und den Schutz vor all den Menschen, die er irgendwann zu hassen begonnen hatte.

Seine Einkäufe hatte er schnell erledigt. Man kannte ihn hier und vermutlich zerriss man sich auch das Maul über diesen komischen alten Kauz und so wunderte sich die Kassiererin in dem kleinen Laden des Dorfes nicht darüber das, als sie ihm einen schönen Tag wünschte, er dieses nur mit einem unwilligem Grunzen quittierte.

Er hasste es, einkaufen gehen zu müssen, und verfluchte nie einen Führerschein gemacht zu haben, als er mit seiner schweren Einkaufstasche die Dorfstraße entlangschritt und froh war, gleich wieder durch das Tor gehen zu können und die Menschen eine kleine Weile hinter sich zu lassen.

Hank hatte sie nicht kommen sehen und als sie ihn mit ihrem alten, klapprigen Fahrrad fast über den Haufen fuhr, wäre er beinahe gestürzt, konnte sich aber gerade noch fangen und ließ nur die Einkaufstasche fallen, die mit einem deutlichem klirren auf das Kopfsteinpflaster knallte. "Dumme Gans, kannst Du nicht aufpassen!", knurrte er die junge Frau an, die eilig von ihrem Drahtesel gesprungen war und nun wortlos vor ihm hockte und mit bloßen Händen die Scherben aufsammelte, die aus der Tasche auf die Straße gesprungen waren und sich in den Unebenheiten des Kopfsteinpflasters verfangen hatten.

Lilith hockte da und murmelte fast unhörbar eine Entschuldigung, die Hank beflissentlich überhörte. Stattdessen fuhr er fort, seinem Unmut Luft zu machen: "Blödes Weibsstück, hast Du keine Augen im Kopf?"

Lilith antwortete nicht. Sie war es gewohnt, dass die Leute auf sie herabsahen und sie mit Worten zu verletzten trachteten.

Eine Scherbe nach der anderen wanderte in ihre Hand, während Hank zusah und an den verlorenen Whisky dachte, der nun die Tasche durchtränkte und dessen goldene Flüssigkeit in den Ritzen des Pflasters versickerte. "Hast Du überhaupt eine Ahnung, wie teuer der war?" Fuhr er die junge Frau zu seinen Füßen an. "Die bezahlst Du mir!" setzte er dann eilig hinzu.

Nun endlich regte sich Lilith.

Sie erhob sich langsam aus der Hocke, richtete sich auf und hielt ihm ihre ausgestreckte Hand mit all den Scherben entgegen. Leise sagte sie "Ich hab kein Geld."

Hank sah sie an. Betrachtete das schmale, kantige Gesicht vor ihm, die dünne, spitz zulaufende Nase, die schmalen, jetzt fest zusammengepressten Lippen ihres Mundes. Dann hob er die noch immer auf dem Pflaster liegende Tasche auf, aus der goldglänzend der Alkohol tropfte, öffnete diese und hielt sie ihr entgegen.

Lilith ließ die Scherben aus ihrer Hand hineinfallen und wischte sich diese danach an ihrem viel zu weitem, rot kariertem und schon deutlich zerschlissenem Rock ab. Dann sah sie ihm wieder ins Gesicht.

Hank erkannte, dass es hinter ihrer Stirn arbeitete und er sah in ihren Augen etwas, dass er für Wut hielt. Es kam ihm seltsam vor, aber er wünschte sich, sie würde jetzt irgendetwas sagen. Worte die er aufgreifen könnte, um sie ihr wieder ins Gesicht zu speien.

Er wollte gerne wieder einmal schreien. So richtig laut schreien, um all seiner Wut platz zu schaffen. Dabei wurde ihm bewusst, dass es nicht dieses Mädchen war, für das er diesen Zorn empfand, sondern ... ja, gegen was eigentlich?

Er kannte das Mädchen, hatte sie schon oft durch den Ort huschen sehen und er wusste, dass man sie nicht mochte. Man erzählte sich, sie sei sonderbar und ein wenig verrückt. Hank hatte sich nie gefragt, ob an diesem Gerede etwas dran war und es war ihm auch egal. Lilith interessierte ihn genauso wenig, wie ihn all die anderen Leute in diesem Kaff interessierten.

Mit einem Kopfnicken deutete er auf das Tor zu seinem Grundstück "Da drinnen gibts genug zu tun. Wenn Du kein Geld hast, dann arbeite."

Die junge Frau schaute auf das Tor, dann wieder ihn an und nickte zustimmend.

Hank sah zu, wie sie ihr Fahrrad aufhob, drehte ihr dann den Rücken zu und legte schließlich, ohne sich noch einmal nach ihr umzuschauen, die letzten Meter bis zu seinem Grundstück zurück. Erst als er das Tor hinter sich gelassen hatte und auf dem schmalen Weg stand, der seinen Garten in zwei hälften teilte, blieb er stehen und als er befriedigt feststellte, das Lilith ihm gefolgt war, deutete er mit einer Armbewegung auf die verwilderten Flächen und meinte "Mir ist egal, wo Du anfängst. Tu was und wir vergessen den Whisky" mit diesen Worten ließ er sie einfach stehen.

Der Whisky und was er gekostet hatte, war ihm eigentlich völlig egal. Etwas an diesem Mädchen ärgerte ihn, etwas, von dem er nicht einmal sagen konnte, was es genau war. Vielleicht ihre stille Art und wie sie ihn betrachtet hatte, mit einem Blick, indem er Vorwurf und wortlosen Widerstand zu erkennen glaubte. Vielleicht war es auch einfach nur ihr Aussehen, das ihm missfiel. Sie war keine Schönheit, nein bestimmt nicht. Ihr Gesicht zeigte eine Spur von Härte, ihre spitz zulaufende Nase war zu groß und ließ alles in ihrem Gesicht unförmig und asymmetrisch wirken. Ihre langen braunen Haare, mit einem einfachen Gummiband hinten zu einem Pferdeschwanz verknotet deutete ihm an, dass ihr auch nicht viel daran gelegen war, etwas an ihrem Aussehen zu ändern.

Irgendwie verstand Hank, warum die Leute sie nicht mochten, denn er glaubte, dass auch er sie nicht mochte und vielleicht war es nur das, dieser in ihm verborgene Widerwille, der wollte, dass sie die Flasche Whisky abarbeitete.

Er betrat sein Haus, schloss die Tür hinter sich, ohne noch einen Gedanken an das Mädchen zu verschwenden. Es war ihm egal, was sie tat oder ob sie überhaupt irgendetwas tat.

Die Einkaufstasche, aus der immer noch wenige Tropfen Alkohol tropften, legte er in der Küche in die Spüle.

Früher hätte er sich jetzt seinem Arbeitszimmer zugewandt. Sich an den Computer gesetzt und geschrieben. Früher war ihm immer irgendetwas eingefallen. Nicht immer Sinnvolles, aber die Worte waren nur so aus ihm herausgesprudelt. Walther hatte recht, es war lange her, seitdem er einen Text ablieferte. Er hatte irgendwann einfach aufgehört zu schreiben. Es gab keine Worte mehr, er hatte alle verbraucht.

Er vermied das Arbeitszimmer. Und sein Computer? Der stand ungenutzt auf dem Schreibtisch und ließ es geduldig zu, dass eine dicke Staubschicht ihn allmählich bedeckte.

Hank setzte sich im Wohnzimmer an den kleinen runden Tisch, an dem vor wenigen tagen sein Lektor ihm gegenüber saß und goss sich einen Whisky ein, von dem er immer einen ausreichenden Vorrat im Haus hatte.

Er hob das Glas, betrachtete die schimmernde Flüssigkeit, atmete das Aroma ein und ließ seine Gedanken treiben.

Er hatte schon immer geschrieben, schon als er noch ein Schüler mit pickligem Gesicht war, hatte er geschrieben.

Er war selbst nie eine Schönheit gewesen und die Mädchen in der Schule mieden ihn. Nur in seinen Geschichten und den vielen kleinen Gedichten die er schrieb, hatte er so etwas wie eine Beziehung zu dem anderen Geschlecht. Aber diese Beziehungen hatten nie irgendetwas mit Liebe zu tun, sondern handelten nur von schlechtem Sex und billigem Fusel, um diesen zu ertragen.

Niemals sollte irgendwer seine Texte zu Lesen bekommen und er hätte nicht einmal sagen können, warum er sie überhaupt schrieb, und so vergrub er diese in seinem Zimmer, ganz unten in der untersten Schreibtischschublade.

Er war schon Student, als er eines Nachmittags nach Hause kam und seinen Vater am Küchentisch sitzen saß. Vor ihm all die vollgeschriebenen Seiten auf dem Tisch verteilt, der dieser aus dem Schreibtisch hervorgewühlt hatte.

Hank stand da, enttäuscht und wütend darüber, dass sein Vater einfach so sein Zimmer und den Schreibtisch durchwühlt hatte, aber auch beschämt, denn er wusste ja, über was all diese Texte handelten.

Eine Weile sahen sie sich nur an, sein Vater hinter dessen Stirn es arbeitete und er, der er das Gefühl hatte, das der Mann da vor ihm eine Entschuldigung erwartete, oder zumindest eine Erklärung. Aber Hank sagte kein Wort, starrte seinen Vater nur an und beobachtete, wie sich dieser langsam erhob, dann mit einer schnellen und wütenden Handbewegung all die vielen Seiten vom Tisch fegte und schließlich auf ihn zuging, ausholte und ihm ins Gesicht schlug.

Es war das erste Mal, das sein Vater ihn geschlagen hatte, und es sollte auch das letzte Mal bleiben, denn noch am selben Abend packte Hank seine Sachen und verschwand.

In der darauffolgenden Zeit schmiss er sein Studium, das ihn sowieso maßlos langweilte und das er nur seinem Vater zuliebe begonnen hatte, nahm jeden Job an, den er bekommen konnte, und mietete sich schließlich irgendwo ein billiges Zimmer, dass er sich gerade noch so leisten konnte.

Er verpackte Hundefutter in einer stickigen Fabrik, schleppte Zementsäcke auf dem Bau, wischte in Bürogebäuden den Dreck von anderen weg und er schrieb. Schrieb in jeder freien Minute.

Seine Geschichten handelten immer von den gleichen Leuten. Nur die Namen änderten sich und nicht alle dieser Figuren waren wirklich erfunden - Huren, Zuhälter, Junkies, kleine und große Ganoven bevölkerten seine Erzählungen. Frauen und Kerle, die wie er selbst in Fabriken schufteten und versuchten ihr kleines bisschen Leben mit Sex und Alkohol etwas aufzupeppen und diesem einen Sinn zu geben.

Menschen, die so wie er im Schatten lebten und sich der Illusion hingaben, ein recht auf dieses Leben zu haben. Menschen, von denen sein Vater glaubte, dass ein junger Mann sie nicht kennen sollte und erst recht nicht über sie schreiben durfte.

Hank schrieb und wusste selbst nicht warum. Vielleicht war es ja, weil sein Unterbewusstsein glaubte, das er sich mit jedem geschriebenen Wort von der eigenen Vergangenheit entfernte und von seinem Vater, dessen Schlag ins Gesicht er immer noch auf seiner Wange brennen fühlte.

Es dauerte lange, bis er den Mut aufbrachte, eine seiner Erzählungen an eine Zeitung zu senden, und es überraschte ihn selbst wohl am meisten, dass diese nicht nur bereit war, sie zu veröffentlichen, sondern ihm sogar etwas dafür zahlte.

Aber Hank muste fast vierzig Jahre alt werden, bis seine Geschichten und Gedichte wirklich erfolgreich wurden und sich sein Bankkonto langsam zu füllen begann.

Er mochte es Geld zu haben, er genoss es, Lesungen zu geben und bewundert zu werden, und es war ihm egal, wenn sogenannte Literaturexperten Dinge in seine Texte hineininterpretierten, die er nie so geschrieben oder gar gemeint hatte.

Zwei seiner Storys wurden sogar verfilmt. Auch wenn er diese Filme nie selbst anschaute, denn er glaubte nicht, dass sie wirklich gut sein konnten und sollten sie wiedererwarten doch gut sein, wären sie es auf eine unangenehme weise, so das Hank sie sich erst recht nicht anschauen mochte. Aber diese Verfilmungen füllten sein Bankkonto noch mehr und irgendwann überreichte man ihm sogar irgendwelche Preise und er wusste, das es Preise waren für Dinge, die er nie schrieb, nie meinte und weil es nie jemandem einfiel, ihn zu fragen, was er denn eigentlich wirklich sagen wollte.

Dieses ganze Literaturtheater war ein Spiel, ein schmutziges Spiel, aber solange er dieses Spiel gewann, spielte er mit.

Dann, eines Morgens vor wenigen Jahren setzte er sich wie gewohnt an seinen Computer und konnte keine Worte mehr finden.

Er suchte danach, hörte in sich hinein, lauschte seinem innerstem und stellte plötzlich fest, dass es nicht mehr da war, dieses Brennen auf seiner Wange von dem Schlag, den sein Vater ihm vor so vielen Jahren versetzt hatte.

Damals begriff er, dass er sich endgültig befreit hatte und das all die Worte, die er über so viele Jahre schrieb ihn nicht, wie er geglaubt hatte, aus seiner Vergangenheit hinausführten, sondern Stäbe waren, die das Gitter in seinem Leben bildeten um ihn in dieser festzuhalten.

Er hatte sich befreit von seinem Vater, den er seit diesem besagten Nachmittag nie wieder sah und zu dessen Beerdigung er noch nicht einmal ging. Ihm wurde bewusst, dass er nun keine Worte mehr brauchte, dass er keine mehr übrig hatte. Sie waren alle verbraucht.

Es dämmerte schon leicht, als Hank aus seinen Gedanken hochschreckte und ihm die Einkaufstasche wieder einfiel, die immer noch in der Küche in der Spüle lag.

Er rappelte sich hoch, ging in die Küche und schaute dort aus dem Fenster, von dem aus er den Garten überblicken konnte.

Lilith hockte dort und zupfte Unkraut. Einen großen Haufen Grünzeug hatte sie schon hinter sich an der Mauer aufgeschichtet.

Er ging hinaus, schritt den moosigen Weg entlang und stellte sich neben sie, die nicht einmal ihren Kopf hob, als er sich ihr näherte.

"Es reicht", sagte er, "Der Whisky ist bezahlt, Du kannst verschwinden."

Das Mädchen richtete sich nun auf und eigentlich hätte er sie ins Haus bitten müssen, damit sie sich wenigstens die Hände hätte waschen können, aber er tat es nicht und so wischte sie sich schließlich ihre schmutzigen Hände an ihrem Rock ab, drehte sich um und verließ wortlos sein Grundstück.

Sie musste schon sehr früh wieder gekommen sein, denn als Hank sich am nächsten Morgen schlaftrunken in der Küche Kaffee zubereiten wollte, konnte er sie sehen.

Der Haufen Unkraut an der Mauer war schon deutlich angewachsen. Es ärgerte ihn, dass sie einfach so wiedergekommen war und in seinem Garten hockte. Aber er war noch zu müde, um hinauszugehen und sie zum Teufel zu jagen.

Auch am nächsten Morgen und selbst am übernächsten hockte sie dort in seinem Garten zwischen all dem Unkraut und er musste zugeben das dort, wo sie schon gewesen war, etwas zum Vorschein kam, dass den Namen Garten wirklich verdiente.

Aber Hank wollte nicht, dass sie immer wieder angeschlichen kam, sich auf seinem Grundstück ausbreitete und dieses in Beschlag nahm. Er wollte seine Ruhe und diese blöde Gans sollte das endlich in ihren Kopf kriegen. Wenn nicht, würde er schon nachhelfen.

Wütend öffnete er die Haustür und schritt eilig den Weg entlang, direkt auf sie zu. Aufgebracht rief er schon von Weitem "Was tust Du hier!? Ich habe dir doch gesagt, die Flasche ist abgegolten und Du kannst verschwinden, also mach das Du fortkommst!"

"Ich kann nicht", flüsterte sie.

Er schaute auf sie herab, die immer noch vor ihm auf den Knien saß und nun angestrengt eine der Pflanzen zu betrachten schien. "Du kannst nicht? Was ist das für ein Blödsinn?"

Nun richtete das Mädchen sich endlich auf, schüttelte die Erde, die ihr an den Händen klebte ab und sah ihm fest in die Augen "Die Leute mögen mich nicht. Sie reden über mich, und wenn sie mich irgendwo sehen, weichen sie mir aus. Es ist fast so, als würde ich einen Schatten werfen, vor dem die Menschen Angst hätten" ihre Worte drangen leise aber bestimmt aus ihrem Mund und die ganze Zeit sah sie ihm unverwandt ins Gesicht. Hank zögerte einen Moment, bevor er antwortete "Und, was hab ich damit zu tun, glaubst Du etwa ich mag dich?" rief er schließlich.

"Vielleicht nicht", erwiderte sie ihm, "Vielleicht magst Du mich auch nicht, aber hier ...", und damit schaute sie um sich und ließ ihren Blick über all die Wildheit schweifen, die einmal ein Garten gewesen war "... hier gibt es keine Schatten."

Er wollte irgendetwas erwidern und wenn es nur war, um seinem Ärger darüber Luft zu machen, dass sie ihn einfach so duzte, bis ihm einfiel, dass auch er ungefragt Du zu ihr sagte, obwohl sie doch schon längst eine erwachsene Frau war. So drehte er sich einfach um und ließ sie stehen.

Ja, sie kam wieder. An jedem Tag konnte er sie aus seinem Küchenfenster beobachten. Selbst wenn es regnete saß sie irgendwo in einer Ecke seines Gartens und zupfte Unkraut oder schnitt an irgendwelchen Sträuchern herum und ganz allmählich verwandelte sich diese Wildnis in einzelne Beete auf denen hier und dort sogar etwas blühte. Blumen, von denen er nicht einmal die Namen kannte.

Lilith hatte schmale, aus Erde zurechtgetrampelte Wege angelegt, die sich nun durch den Garten schlängelten und die Beete miteinander verbanden und dort, ganz hinten in einer der Ecken und dicht an der Mauer, hatte das Mädchen sogar eine steinerne Bank freigelegt, von der Hank zuvor nicht gewusst hatte, dass es sie überhaupt gab.

An jedem verdammten Tag konnte er sie aus seinem Küchenfenster beobachten, wie sie da in seinem Garten herumwerkelte.

Sie schaute niemals auf, obwohl sie doch spüren musste, dass er sie beobachtete, und er bat sie niemals zu sich herein.

Dann eines Morgens hockte sie nicht wie gewohnt irgendwo in seinem Garten, sondern saß auf der steinernen Bank. Ein Buch aufgeschlagen auf ihrem Schoss.

Instinktiv wusste er, dass es eines seiner Bücher war, welches sie da las und er fühlte sich ertappt. Er hatte das Gefühl, sie hätte sich jetzt, mit dem lesen eines seiner Werke viel zu weit in sein Leben eingeschlichen und damit eine unsichtbare Grenze überschritten.

Er dachte an seinen Vater und das dieser nur den Schmutz in seinen Erzählungen und Gedichten sehen konnte, nicht aber die Menschen, die sich hinter all den Worten verbargen, und er fühlte sich aus unerfindlichen Gründen dem Mädchen dort draußen gegenüber beschämt.

Etwas wie Wut machte sich in seinem Bauch breit. Nicht aufbrausende und nach außen drängende Wut, sondern mehr wie ein grummeln das sich gegen ihn selbst richtete und das ihm Übelkeit bereitete, die er versuchte herunterschlucken, als er die Haustür öffnete und zu dem Mädchen ging.

Neben der Bank blieb er stehen und schaute auf sie, die immer noch las, herunter.

Lilith blickte nicht auf, als sie sein kommen bemerkte, und hielt ihren Kopf weiterhin über die Seiten gesenkt. Schließlich sagte sie auf ihre ruhige, fast flüsternde Art "Die Leute sagen, Du bist berühmt."

Mit unwilligem knurren antwortete er "Die Leute Lügen."

"Aber sie lieben Deine Geschichten." meinte Lilith hartnäckig.

Er dachte an all die Figuren, die seine Erzählungen bevölkerten, an all die kleinen Ganoven, die Alkoholiker, Junkies, Zuhälter, Nutten und die vielen anderen schrägen Vögel und antwortete "Nein, die Leute lieben nicht das, was ich geschrieben habe, sie lieben nur sich selbst. Wenn sie lesen, was ich schrieb, fühlen sie sich in ihrem eigenem kleinen und beschissenem Leben besser, weil sie glauben, sich über die Leute in meinen Texten moralisch erheben zu können."

Lilith hob ihren Kopf, betrachtete ihn einen Augenblick und meinte dann "Nein, die Menschen mögen deine Geschichten, weil sie ehrlich sind und von ganz normalen Leuten handeln, die immer ein bisschen so sind wie sie selbst.“

Hank bedachte ihre Äußerung nur mit einem missbilligendem Schnauben und fast laut werdend schimpfte er "Ich hasse Menschen!"

"Aber Du schreibst über Menschen, wie kannst Du sie dann hassen?" empörte sich die junge Frau.

Stirnrunzelnd und mit einem kalten Zug um den Mundwinkeln antwortete Hank "Ich muss die Menschen nicht mögen, um über sie zu schreiben. Sie sind doch alle gleich. Egal wo man hinkommt, ob sie nun Arm oder Reich sind, Jung oder Alt, Mann oder Frau, alles ein verlogenes Pack und genau das findet sich in meinen Geschichten wieder und wenn, wie Du meinst, die Leute meine Geschichten mögen, weil diese so ehrlich sind, dann nur deshalb, weil sie ihre eigene Verlogenheit in ihnen entdecken!"

Die letzten Worte hatte Hank fast herausgeschrien.

Lilith schaute ihn unverwandt an.

Diesen Blick, voll des Widerstands kannte er, dann sagte sie "Du bist ungerecht. Die Menschen sind nicht so. Es gibt viele andere, Anständige unter ihnen, viel mehr, als Du zu wissen glaubst."

"Ach ja?", antwortete er, "gerade Du müsstest doch wissen, wie die Menschen wirklich sind. Du sitzt hier in diesem Kaff, jeder meidet dich, weil er dich für verrückt hält. Du selbst hast mir doch erzählt, dass dich niemand hier mag!"

"Aber Du magst mich!", empörte sich Lilith.

"Ich, ausgerechnet ich? Warum sollte gerade ich dich mögen? Die Leute haben vermutlich recht, Du kannst nicht ganz richtig im Kopf sein. Ich bin wahrscheinlich derjenige, der dich am allerwenigsten mag!"

"Doch Du magst mich, Du willst es dir nur nicht eingestehen."

"Welch ein Blödsinn!", rief Hank aus.

"Nein, kein Blödsinn. Du lässt mich hier in deinem Garten sein, weil ich dir erzählt habe, dass ich mich hier wohlfühle. Du stehst hinter deinem Küchenfenster, beobachtest mich und denkst über mich nach und auch wenn ich nicht weiß, was Du denkst, so weiß ich doch, dass Du mich niemals fortjagen wirst und deshalb weiß ich auch, dass Du mich magst."

Hank fühlte sich zum zweiten Mal an diesem Morgen ertappt. Sie hatte niemals zu ihm hingeschaut, wenn er sie aus seinem Küchenfenster beobachtete, und sie hatte recht, in letzter Zeit hatte er viel über sie nachgedacht, aber mögen, mögen tat er sie nicht. Oder mochte er sie und konnte sich dieses nur nicht eingestehen?

Hank suchte nach Worten, Worte die sie besonders verletzen sollten. Er wollte nicht, dass sie glaubte, er würde sie mögen und er wollte sie auch nicht mögen, und doch war er unfähig die Worte, die ihm in den Sinn kamen auch auszusprechen.

Lilith riss ihn aus seinen Gedanken, als sie schließlich sagte "Eines würde ich gerne wissen."

"Was?", fragte er.

"An was Du gerade schreibst."

"Ich schreibe nicht mehr", antwortete er unwillig.

"Aber warum denn nicht, Du musst schreiben!"

Wieder wurde Hank ein wenig lauter, als er sagte "Niemand sagt mir, was ich zu tun, und zu lassen habe!"

"Aber Du musst!", erwiderte sie trotzig.

"Nein, ich muss gar nichts. Ich habe aufgehört. Alles, was ich geschrieben habe, reicht für ein Leben. Ich habe nichts mehr zu sagen und keine Worte mehr."

Einen Augenblick sahen sich die beiden nur an und Hank glaubte, in ihren Augen etwas erkennen zu können, was er zuvor nicht gesehen hatte. Etwas wie Tiefe und Wissen.

"Du musst!", wiederholte sie noch einmal und auch jetzt, in diesem Augenblick, blieben ihm die Worte aus.

Unwillig schüttelte er den Kopf, drehte ihr den Rücken zu und verließ sie, die noch immer auf der Bank in seinem Garten saß und ihm hinterherschaute, wie er über den Weg stapfte und schließlich in seinem Haus verschwand.

Am nächsten Morgen war sie nicht gekommen. Als er durch sein Küchenfenster blickte, sah er nichts als seinen Garten, der ihm einmal wie ein Schutzwall vor all den Menschen da draußen vorgekommen war und nun nur noch einsam und verlassen vor ihm lag.

Mit den Augen tastete er jeden Quadratmeter des Grundstücks ab, um sie vielleicht doch noch in irgendeiner Ecke, die seinem Blickfeld versperrt war zu entdecken. Doch da war nichts. Schließlich ging er sogar vor die Tür und wäre beinahe auf das kleine Päckchen getreten, welches dort lag. Er bückte sich, hob es auf und betrachtete es einen Augenblick.

Er wusste, dass es von ihr war. In einfaches Packpapier gewickelt, kaum viel größer als seine Handfläche öffnete er es schließlich.

Ein kleines Notizbuch kam zum Vorschein. So eines wie man es in jedem Schreibwarenladen für wenig Geld kaufen konnte.

In einer kleinen Schlaufe steckte ein Stift, auch dieser nichts besonderes. Das Packpapier ließ er einfach aus seinen Händen gleiten und schlug dann die erste Seite des Büchleins auf "Du musst!" stand dort geschrieben und darunter ihr Name "Lilith."

Er ging zurück ins Haus und ließ dort das Notizheft fast achtlos auf dem Küchentisch liegen.

Auch am nächsten Morgen kam sie nicht, auch nicht am darauffolgenden und nicht an all den anderen Tagen, die diesem folgten, und da ahnte er, dass sie nie wieder kommen würde und eigentlich, so dachte er, müsste er froh darüber sein, sie endlich los zu sein. Aber da war etwas, was ihn traurig stimmte.

Er versuchte den Gedanken an sie abzuschütteln und als ihm das nicht gelang, nahm er das kleine Notizheft, welches immer noch auf dem Küchentisch lag, öffnete die Haustür, durchquerte den Garten und setzte sich auf die steinerne Bank.

Er wusste nicht, woher all diese Gedanken kamen, die ihn forttrieben.

Sein Vater kam ihm in den Sinn. Die Ohrfeige die dieser ihm vor so vielen Jahren versetzte und die so viele Jahre auf seiner Wange gebrannt hatte. Sein Vater, der unfähig war, die Geschichten und Gedichte zu verstehen, die sein Sohn geschrieben hatte. Der nur den Dreck sah und nicht die Menschen, die sich dahinter verbargen.

Er musste an seine Mutter denken, an die er nur eine vage Erinnerung hatte, weil diese ihn und seinen Vater schon verlassen hatte, als er selbst noch ein kleines Kind war und mit irgendeinem Kerl durchbrannte.

Er dachte an all die miesen Jobs, die er in seinem Leben schon ausgeübt hatte und die immer schlecht bezahlt waren. An die Männer und Frauen, die er dabei kennenlernte und die irgendwann Teil seiner Geschichten wurden und er dachte an Lilith, die eine der Figuren aus seinen Erzählungen sein könnte und doch ganz anders war als diese und dann dachte er über sich selbst nach und musste zugeben, dass auch er irgendwie ganz anders war, und schließlich musste er sich eingestehen das Lilith vielleicht recht damit gehabt hatte, als sie sagte, dass es viele Menschen da draußen gab, die ganz anders waren, als er zu wissen glaubte und das vermutlich jeder auf seine Art anders war als jeder andere.

Hank schlug das Notizheft auf, zog den Stift aus der Schlaufe und besah sich eine Weile die leeren Seiten.

Es war, als wäre er Beobachter seiner selbst, als er schließlich das erste Wort niederschrieb: Lilith.

Er betrachtete, was er geschrieben hatte.

Die Buchstaben kamen ihm ungelenk vor, denn es war schon lange her, seitdem er das letzte Mal mit einem Stift auf Papier schrieb.

Er dachte an den Beginn seiner Schulzeit zurück und wie er in der Grundschule begann die ersten Buchstaben zu schreiben - große geschwungene Ls, dabei versuchend sich an die vorgegebenen Linien in seinem Schreibheft zu halten, was nicht immer gelang und ihm manchmal eine Rüge einbrachte.

Unendlich lange betrachtete er das Wort vor ihm und dann, mit einem Mal wusste er, hinter diesem einen Wort würden sich andere einfinden. Viele andere und es würden Geschichten aus diesen Worten entstehen. Ganz andere Geschichten als die, die er bis jetzt geschrieben hatte.

Ganz neue Geschichten.

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